Das Böse verliert, das Gute gewinnt. Schwarz und weiß - so klar funktionieren die meisten Märchen. Und so klar hätte Maria wohl gern auch ihre Welt. Doch dauernd macht ihr die Realität einen Strich durch die Rechnung: Da ist die beste Freundin, die auch mal eine echte Zicke sein kann. Die geliebte Mama, die zu Unrecht tadelt. Der gemeine Schläger, der einen Schwachen beschützt. Allerlei Grau jeden Tag, dass am Abend ausgewertet werden will. Wir versuchen gemeinsam, die Zwischentöne zu ergründen. Warum tut jemand, was er tut? Warum muss zum Beispiel die Lüge nicht zwangsläufig schlecht und die Wahrheit nicht automatisch gut sein? Ich glaube, dass auf dem Verständnis für Zwischentöne ein wichtiger Teil der Empathie fußt.
Je intensiver ich mich mit der digitalen Kommunikation in Foren und Chats beschäftigte, desto mehr beunruhigt mich, wie fast jedes Thema in ein Schwarz-Weiß-Schema gepresst wird. Dabei kann das Internet doch ein wunderbares Hilfsmittel zur Toleranz sein. Wie letzte Woche zum Welt-Down-Syndrom-Tag, als zwei bewegende Videos sich länderübergreifend im Netz vervielfältigten und auch den Weg zu uns fanden.
Schon vorher war das Thema Behinderung plötzlich aufgetaucht, als Maria auf dem Spielplatz ein autistisches Kind beim Spielen beobachtete. „Was hat das Mädchen?“, fragte sie mich, als die ungefähr Zehnjährige angestrengt und laut artikulierend versuchte, einen Ball zu fangen. Ich erklärte ihr, dass manche Kinder anders geboren werden und man das Behinderung nennt. „Klingt aber nicht schön“, befand meine Tochter und ich musste ihr Recht geben. Auf dem Heimweg wollte sie vieles wissen: Was genau „autistisch“ bedeutet,welche verschiedenen Formen von Behinderung es gibt, ob die Kinder auch glücklich sind. Ich versuchte ihr zu erklären, dass behinderte Menschen etwas nicht können, was die meisten anderen können, aber dafür oft andere Stärken haben. Ich erzählte ihr von Stephen Hawking, der nur noch über einen Computer kommunzieren kann, aber einer der klügsten lebenden Menschen ist. Von Stephen Wiltshire, einem Autisten, der aus dem Gedächtnis detailgetreu ganze Städte zeichnen kann. Zuhause zeigte ich ihr die Beiden in kurzen Youtube-Filmen.
Maria wollte mehr Filme sehen über Menschen, die „eben anders“ sind. Ich machte mich im World Wide Web auf die Suche und fand von der privaten Behinderten-Organisation „Pro Infirmis“ das Video zum Projekt „Because Who Is Perfekt“. Mit den Maßen von körperlich Behinderten wurden Schaufensterpuppen angefertigt, die eine ganz eigene Schönheit haben. Der Vierminüter wurde von der renomierten Werbeagentur Jung-von-Matt umgesetzt, bekam Millionen Klicks und viele Preise.
Auch der Film „Dear Future Mom“ der italienischen Organisation CoorDown, indem Kinder mit Trisomie 21 einer zukünftigen Mama antworten, ist mit professioneller Hilfe der Werbeagentur „Saatchi & Saatchi“ entstanden. Die Idee, den Welterfolg von Pharrell Williams für den „Happy Welt Down Syndrom Tag“ zu adaptieren, hatten die Eltern der kleinen Lilo, die Fernsehredakteurin Brit Bentzen und der Kameramann Paul Väthröder.
Würde es diese Toleranz-Filme nur mit klassischen Medien geben? Ich weiß es nicht. Aber ich denke, dass zumindest die Vielfalt den Möglichkeiten des Internets zu verdanken ist. Und ich finde es großartig, dass mir die digitale Welt die Möglichkeit gibt, meiner Tochter Behinderte als starke und liebenswerte Persönlichkeiten zu zeigen. Um ihr Toleranz für Andersartigkeit mit auf den Weg zu geben. Oder - wie es „American Hustler“-Regisseur David O. Russell nennt - für „Die Magie jenseits der Schubladen“.