Bertold Brecht prangerte 1935 beim Schriftstellerkongress in Paris an: „Mitleid ist etwas, das in der und der Menge vorhanden ist und ausgehen kann. Und das schlimmste ist: Es geht aus in dem Maße, in dem es nötiger wird. Kameraden sagten mir: Als wir zum ersten Male berichteten, dass unsere Freunde geschlachtet wurden, gab es einen Schrei des Entsetzens und viele Hilfe. Da waren hundert geschlachtet. Aber als tausend geschlachtet waren und des Schlachtens kein Ende war, breitete sich Schweigen aus, und es gab nur mehr wenig Hilfe. So ist es. Wenn die Verbrechen sich häufen, werden sie unsichtbar.“
Unverändert sterben bei Kriegen und bewaffneten Konflikten Millionen Menschen. Heute sind unter anderem Jemen, Myanmar, Nigeria, Sudan, Kongo, Pakistan, Afghanistan und Irak Brennpunkte menschlichen Leids. Und Syrien.
Dass sich dennoch Mitleid mit den Menschen dort regt, liegt auch am Internet und einem Mädchen, wenig jünger als meine Tochter. Der siebenjährigen Bana. Unter @AlabedBana kann seit Ende September jeder bei Twitter ihre Hilferufe aus dem zerbombten Osten Aleppos lesen. Ihre Mutter Fatemah hat den Account eingerichtet. Sie fotografierte ihre Tochter beim Lesen, beim Spielen in Trümmern. Sie filmte ihr Kind, wie es sich bei Bombenangriffen in Todesangst die Ohren zuhielt. Sie flüsterte ihr die englischen Worte zu, wenn Bana in die Kamera appellierte „Please help us“.
Aus dem muslimischen Mädchen wurde ein Symbol gegen das sinnlose Leiden.
Eine Botschafterin des Mitgefühls. Ähnlich wie Anne Frank.
Das jüdische Mädchen schrieb ab 1942 Tagebuch im Versteck vor den Nazis im Hinterhaus der Amsterdamer Prinsengracht 263. Nach der Verhaftung der Familie nahm eine Helferin das Tagebuch an sich und übergab es später Annes Vater, dem einzigen Holocaust-Überlebenden der Familie. Heute ist „Das Tagebuch der Anne Frank“ Teil des UNESCO-Weltdokumentenerbe.
Vielleicht wird irgendwann auch der Twitter-Account @AlabedBana als wichtiges Zeitzeugen-Dokument gelten. Obwohl das Kurznachrichten-Tagebuch — anders als bei Anne Frank — zum großen Teil das Werk von Erwachsenen ist.
Banas Mutter hat die neuen digitalen Möglichkeiten ausgeschöpft, um den Schrecken des Bürgerkrieges aus Sicht ihres Kindes zu beschreiben. Zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit zeigt sich in Echtzeit, wie Krieg das Leben eines ganz normalen Kindes in Schutt und Asche legt. Wie Banas Anziehsachen immer schmutziger wurden, ihre Freunde starben, ihre Augenringe immer tiefer und ihre Angst immer größer wurde.
Fatemah hat digital ihre Stimme erhoben und riskiert dafür auch das Leben ihrer Tochter. Sie hat ihre Familie damit in den Fokus gerückt. Möglich, dass sie wegen @AlabedBana gesucht und Repressalien erfahren werden. Es scheint aber, dass das weltweite Netz des Mitgefühls, dass sie virtuell geknüpft haben, sie schützen wird.
Update 19. Dezember: Heute morgen hieß es, Bana und ihre Familie seien evakuiert worden
Wer mit einer Spende helfen möchte:
Unicef - Nothilfe für Aleppo
Caritas-Hilfspakete für syrische Kinder