Mit der Digitalisierung heben sich Grenzen auf. Trotz 9700 Kilometern Entfernung kann Maria der Oma in Mexiko per Skype beim Frühstück Gesellschaft leisten. Wenn sie malen will, wählt sie zwischen Farbstiften und Pixeln. Und wenn die Mama bei einer Frage nicht weiter weiß, ist die Antwort nur ein paar Klicks entfernt. Ihre neuste Entdeckung ist einer der schillerndsten Grautöne unserer Zeit: Ein Mann, der sich als Frau verkleidet - und trotzdem den Bart betont. Auf der Bastelunterlagen-Zeitung fiel ihr ein Foto von Tom Neuwirth alias Conchita Wurst ins Auge. „Ist er traurig, dass er ein Junge ist?“, wollte sie wissen.
Nein, sagte ich und erklärte ihr, dass er als Junge gehänselt wurde, weil er anders war und sich in Jungs verliebte. Dass er daran nicht verzweifelte, sondern ein strahlendes Schutzschild um sich zog, seinen neuen Namen wählte, „weil es wurst ist, woher man kommt und wie man aussieht“, und singend die Welt erobern wollte. Ein Mensch, der sich selbstbewusst zwischen die Stühle setzt.
Als wir uns im Internet gemeinsam den Song-Contest-Auftritt ansahen, war unsere Wahrnehmung sehr unterschiedlich. Während sich mein Blick immer noch leicht irritiert im Bart verfing, faszinierte Maria schon beim ersten Ansehen die Lichtshow: „Guck mal, wie Feuerflügel“.
Ich erinnerte mich an einen Vortrag, den ich wenige Tage zuvor auf der Internet-Konferenz re:publica besucht hatte. Professor Max Woodtli, Dozent für Medienpädagogik an der pädagogischen Hochschule Thurgau, sprach über Lernen im 21. Jahrhundert. Seine These: Wir müssen anders denken lernen. Das traditionelle Entweder-Oder-Modell (richtig-falsch, klug-dumm, schwarz-weiß, pro-contra) stößt in ständig komplexeren, unüberschaubareren und vernetzteren Welt an seine Grenzen.
„Wenn wir Medien entwickeln, verändern wir die Welt, und wenn sich die Welt verändert, verändert das unser Denken.“ In Südkorea wurde 2011 beschlossen, die Schulbücher abzuschaffen und durch digitale Lernmedien zu ersetzen. In der Game-Branche gibt es erste Erfolge dabei, Aliens & Co. aus der digitalen Spielfläche in die reale Welt zu projizieren. Ob das gut ist oder schlecht? Es wird Realität! Um darin neue Möglichkeiten zu entdecken, müssten wir unsere Denkmuster erweitern, meint Professor Woodtli. Auch ein Sowohl-Als-Auch verinnerlichen.
Und während ich im Kopf noch dabei bin, aus meinen Mann-Frau-Schubladen ein größeres Mann-Frau-Beides-Schubfach zu zimmern, ist Maria schon weiter. Sie möchte das Video auf ihrem Computer speichern – weil ihr das Lied und die Feuerflügel gefallen.