„Die Wirklichkeit, die Wirklichkeit/ trägt wirklich ein Forellenkleid / und schaut sich stumm, und schaut sich stumm/ nach andren Wirklichkeiten um.“ An diese Zeilen aus André Hellers Lied "Die wahren Abenteuer sind im Kopf" musste ich denken, als ein vergessener Rucksack die morgendliche Routine dutzender Berliner durchbrach. Jemand hatte ihn auf dem U-Bahnhof Rosa-Luxemburg-Platz vergessen. Noch vor wenigen Jahren wäre er unbemerkt im Fundbüro gelandet.
Jetzt aber rückten Polizisten an, sperrten die Station ab, die U-Bahn beendete einen Bahnhof davor ihre Fahrt. So musste ich im Regen zum Büro laufen, bescherte mir der Rucksack einen ungeplanten Spaziergang. Für eine elegant gekleidete Frau, die mit mir in der Bahn gesessen hatte und nun vor mir lief, waren die Ausmaße größer. Schimpfend erklärte sie ihrem Smartphone, dass sie ihren Zug nach Hamburg verpassen würde und zu spät zum Meeting käme. Eine fremde Nachlässigkeit, gepaart mit diffusen Ängsten, hatte unser beider Wirklichkeiten gekrümmt.
Wirklichkeiten, die neue Ebenen bekommen werden. Virtuelle Realität und erweiterte Realität sind diese Pailletten, die gerade ins Forellenkleid gewebt werden. VR – Virtual Reality – lässt die Menschen mit dem Gesicht in die Pixelwelt eintauchen, die über eine VR-Brille direkt vor die Augen projiziert wird. AR – Augmented Reality – fügt der realen Alltagswelt per Smartphone-App digitale Elemente hinzu.
Noch sitzen diese Pailletten nicht fest, doch die Debatte darum ist schon von diffusen Ängsten geprägt, ähnlich derer, die den Rucksack mit Sportsachen zur möglichen Bombe werden lassen. Bedenken, die vielleicht vorbeugen, vor allem aber hemmen.
„Ich hätte gern mit 16 gewusst, dass das Einzige, was zwischen uns und dem Leben steht, die eigene Angst ist, und dass man sie nicht füttern darf, indem man ihr nachgibt“, antwortete Autorin Cornelia Funke, als sie vom Zeit-Magazin gefragt wurde, was sie ihrem jugendlichen Ich auf den Weg geben würde.
Ich möchte meiner Tochter nicht meine Ängste aufbürden, deshalb versuche ich mit ihr zusammen spielerisch die Spiegelungen der neuen Pailletten einzufangen, bevor sie allein in die neuen Ebenen der Realität eintaucht. Beim mySommertreffen bastelten wir zusammen eine VR-Brille aus Pappe. Am Ende steckten wir das Smartphone hinein und mit der passenden App konnten wir zwischen Haien tauchen oder mit Vögeln fliegen.
Und ich lud mir Pokémon GO aufs Smartphone. Seitdem gehen wir abends oft gemeinsam auf Monsterjagd. Wir haben auch einen virtuellen Rucksack dabei. Den kann man zumindest nicht im U-Bahnhof vergessen. Noch nicht.